Sitzende (Seated) - Otto Dix

Otto Dix

Otto Dix: Sitzende, von 1931

Die Zeichnung „Sitzende“ aus dem Jahr 1931 ist ein herausragendes Beispiel für Otto Dix’ Hinwendung zu einer altmeisterlich inspirierten Zeichenkunst, die sich zwischen 1928 und 1933 in seinem Werk entfaltet. In dieser Phase wandte sich Dix zunehmend von der präzisen, konturierten Darstellungsweise der Neuen Sachlichkeit ab und suchte stattdessen nach Ausdrucksformen, die stärker von klassischer Zeichenkunst und malerischen Qualitäten geprägt sind.

Die Darstellung einer sitzenden weiblichen Figur verweist nicht nur auf das traditionelle Aktmotiv der Kunstgeschichte, sondern zugleich auf eine psychologisch aufgeladene, beinahe meditative Stille. Die Verwendung von Rötelkreide – einem warmtonigen, rotbraunen Zeichenmittel – unterstreicht diesen Rückgriff auf klassische Techniken, die seit der Renaissance in der Figurendarstellung genutzt wurden. Rötel ermöglicht dabei nicht nur fein nuancierte Modellierungen der Form, sondern auch eine weiche, körperlich wirkende Plastizität, die in dieser Zeichnung deutlich spürbar ist.

In der Zeichnung „Sitzende“ verzichtet Dix weitgehend auf lineare Konturen zugunsten einer fein abgestuften Tonigkeit. Die Flächen wirken atmend, die Übergänge sind weich – eine Strategie, die durch Verwischungen und flexible Schraffuren verstärkt wird. Die Figur erscheint in sich versunken, zurückhaltend und gleichzeitig präsent. Diese Ambivalenz verweist auf das übergeordnete Thema der melancholischen Innerlichkeit, das viele Werke dieser Phase durchzieht.

Kunsthistorisch gesehen ist das Blatt ein Ausdruck der Rückbesinnung auf die „alte Meisterschaft“, wie sie auch in der deutschen Renaissance (etwa bei Dürer oder Hans Baldung Grien) verankert ist. Doch Dix integriert diese Referenz nicht als bloßes Zitat, sondern als Teil einer bewussten Strategie der Verlangsamung und Konzentration. Inmitten der politisch wie künstlerisch unruhigen Zeit der Weimarer Republik und ihrem Übergang in den Nationalsozialismus, erscheint diese zeichnerische Reduktion auf das Wesentliche als eine Art Reflexion über das menschliche Maß, über Stille und Verletzlichkeit.

Die „Sitzende“ steht somit exemplarisch für eine künstlerische Umorientierung bei Otto Dix: weg von der scharf beobachtenden, oft provokativen Darstellungsweise der 1920er Jahre – hin zu einer introspektiven, technisch raffinierten und atmosphärisch dichten Zeichenkunst.


© VG Bild-Kunst, Bonn 2023

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