Dietrich Klinge

Kopf



Zelebriert der Bildhauer Dietrich Klinge hier die Ästhetik der Unvollständigkeit? Oder den Gedanken des „Fernsinn versus Nahsinne“? In der Tat scheinen das Riechen und das Schmecken, repräsentiert durch Nase und Mund, oft geringer geschätzt zu werden als der Gesichtssinn, der gemeinhin alle Blicke (!) auf sich zieht. Jedenfalls fehlt bei Klinges Kunstwerk die Ablenkung durch und auf das Auge; und die anderen Sinne treten in den Vordergrund: Die Nase ragt „sinnbildlich als signalisierter Geltungsanspruch des Ichs in die Welt“, um mit dem Kunstphilosophen Gert Mattenklott zu sprechen; das Organ so exponiert wie sein Träger – zumindest so, wie er sich gern sähe. Georg Simmel schreibt 1923 sinngemäß, dass man nichts so intensiv assimilieren könne wie einen Geruch bzw. dessen Quelle – die einzig mögliche Steigerung dieser Intensität wäre die Einverleibung, d. h. man verspeist das Objekt, welches die olfaktorische Sinneswahrnehmung ursprünglich ausgelöst hatte – mit dem Mund, den Klinge an seinem Kopf so einprägsam darstellt. Ein wesentlicher Aspekt jedoch tritt noch hinzu: Der Mensch spricht mit dem Mund; und oft sind Worte und ihr Gebrauch Ursache von Missverständnissen. Oder aber der Mensch schweigt – und wie die Rede kann auch das Schweigen den Mitmenschen bestrafen, entwürdigen, ausschließen – als soziales Wesen lebt er in der Kommunikation. Dennoch ist, und dies möchte uns der Künstler zeigen, in letzter Konsequenz unaussprechlich, was in einem Menschen vor sich geht. Das Kunstwerk aber „spricht“, mit unmittelbarer Wucht, deren die gesprochene (Laut-)Sprache nicht mächtig ist – und die Sprachlosigkeit erhebt sich zum beredten Schweigen.



-Brigitte Herpich

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